Vorliegender Text bildete Ende des 19. Jahrhunderts die Grund- und Vorlage für Ratzel’s Politische Geographie[1]. Zu Beginn beschreibt er das Dasein von Generationen eines Volkes als Berg- und Talfahrt, als sich unaufhörlich wiederholendes Absteigen in ein und Aufsteigen aus einem Wellental, als stetig fließender Strom, dessen Kontinuität nur durch Klippen im Strombett gestört werden kann; so entstehen Veränderungen und Neuerungen für den Strom, aber nicht für das Strombett. An ein und derselben Stelle wird also immer derselbe Einfluss auf verschiedene Bewegungen ausgeübt.
Die geographische Lage ist also etwas Beständiges in der und für die Bewegung; sie gehört der Erdoberfläche an und entscheidet über Boden, Klima, Grenzen, Ausdehnung und Zahl des darauf stattfindenden Lebens.
Ratzel empfindet es als unausweichlich, jedem wichtigen Gegenstand seiner geographischen Lage zu zuweisen; sie ist das einzig Beständige im Verlauf der Geschichte. Dementsprechend „überlegen“ sind Völker in ihrem je angestammten Gebiet; „Der Anschluß an das von der Natur Gegebene hat sich […] jeweils als das Beste gezeigt“[2], proklamiert Ratzel eine Beibehaltung territorialer Kontinuität. Allerdings denkt er diese Stabilität in einem wechselseitigen Austausch- und Inspirationsverhältnis mit benachbarten Gebieten; das „Wie?“ bestimmt auch hier die Lage.
Nichts desto trotz bedeutet die Lage nicht ein totes, starres Nebeneinander von Gebieten, sondern ein aneinander gegliedertes Verhältnis; es gibt keine absolute Isolation.
Die Lage eines Landes bestimmt seine natürlichen Eigenschaften. Flächenausdehnung, also Größe ist ein wesentlicher Bestandteil der geographischen Lage; ändert sich die Größe, ändert sich die Lage (und ihre Grenzen). Wobei Lage bei Ratzel keineswegs gleichbedeutend mit Raum ist, da auch Qualität oder Bedeutung der Lage eine Rolle spielen (z.B. Ausdehnung in Richtung Meer, Lage zwischen größeren Nachbarn, o.ä.). Diese Komponenten bestimmen u.a. auch das politische Gewicht des Landes.
„Der politische Raum hat endlich etwas Abstraktes, während der politischen Lage im Vergleich zu ihm ein begrenzter, organischer Charakter zukommt“[3]. Dies bezieht diese Konstanten politischer Geographie natürlich verstärkt aufeinander.
Die Lage erfährt – mehr als der politische Raum – eine enorme Einflussnahme und Determination durch die Erdoberfläche. Die Grundtatsachen der Lage bleiben im Wesentlichen unverändert, auch wenn große Veränderungen des Raumes die Lage natürlich verändern können. Eine Bestimmung der Lage ist also schwieriger als offenkundig angenommen. Ratzel hält eine Abstraktion der Lage von Punkten (Städte, Berge, Flüsse, etc., die durch Breiten- und Längengrade festgemacht werden) für unwahr und wertlos, weil sie für die politische Geographie zu kurz greift. „Der Punkt kann höchstens den Raum verdeutlichen, nach Lage und Ausdehnung, und gewinnt damit einen symbolischen Wert“[4].
Die Lage eines Landes kann nur durch Bezugnahme auf eine ganze Anzahl von Angaben zu bestimmen sein (durch Bezug auf Lagen, Zonen, Erdteile, Meere, Hauptgebirge, etc.), und erfolgt als solches auch klassifikatorisch. Und dieses klassifizierende Denken – so verlangt Ratzel abschließend für die Lagebestimmung von Ländern – muss vom Größeren zum Kleineren führen, um möglichst klar und einsichtig zu sein.
[1] Ratzel, Friedrich (1923); Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges; München/Berlin: Oldenbourg.
[2] Ratzel, Friedrich (1894); Über die geographische Lage, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hrsg.); Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 387.
[3] Ebenda, S. 392
[4] Ebenda, S. 391