Seit Kant wird Raum (wieder) untrennbar vom wahrnehmenden Subjekt gedacht. Entscheidende Folge ist die gegenseitige Abhängigkeit der Variablen Raum, Subjekt und Wahrnehmung. Im auf Kant folgenden 19. Jahrhundert war Wahrnehmung also „Effekt der Einwirkung der Umwelt auf den jeweiligen, kontingenten und Veränderungen in Zeit und Raum unterworfenen Körper“[1]. Folgerichtig verliert der Körper seine Funktion als subjektive, bewusst wahrnehmende Instanz. „Die Bedingungen von Wahrnehmung [so skizziert Doetsch also] sind Variablen eines labilen Gefüges aus körperlichen und technischen Bedingungen, die sich in Signalen verdichten und stabilisieren“[2]. Als Zentralbegriff dieses Gefüges und seiner konzeptionellen Erfassung im darauf folgenden 20. Jahrhundert erkennt Doetsch Medien. Logischer Schluss daraus wäre die Annahme von Raum als Effekt der Medien.
Dieser theoretischen Erkenntnis zugrunde liegende Überlegungen sind (in der Auswahl von Jörg Dünne und Stephan Günzel) vorderhand André Leroi-Gourhans Theorie der Anthropogenese und Jacques Lacans Theorie der Genese des Subjekts.
Um die Überlegungen Gourhans zu verstehen, muss man ausgehen von der Annahme, dass Technik (Gebrauch von Werkzeug, etc.) nicht Erweiterung, sondern integraler Bestandteil des menschlichen Körpers ist. Daran anschließend nämlich stellt sich Gourhan die Frage nach der „Soziogenese, also wie sich dieses körperlich-technische Gefüge in der objektalen und interindividuellen Umwelt einrichtet und größere Aggregate bildet“[3]. Dies geschieht durch Integration und Strukturierung von Raum und Zeit, sowohl auf einer technischen als auch auf einer symbolischen Ebene. Die technische Strukturierung basiert auf einer rhythmischen Regularisierung von Körperlichem und Technischem in Form von Gesten. Durch stetige Wiederholung und später auch Aufzeichnung entstehen in weiterer Folge symbolische Strukturen[4].
Somit entsteht eine ineinander untrennbar verwobene Konstruktion, deren Produkt unter anderen strukturierter Raum ist. „Raum entsteht also […] aus der Wiederholung von Grenzen und Differenz schaffenden technischen Gesten und Operationsketten, die den gegliederten Raum abgrenzen von einer chaotischen Räumlichkeit“[5]. Demzufolge ist die Konstruktion des Raumes Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft. Durch die Einordnung des Einzelnen in eine größere rhythmische Einheit, die gleichzeitig räumliche Einheit ist, entsteht Gesellschaft.
Jacques Lacans Überlegungen bewegen sich auf einer anderen, nämlich der individuellen Ebene. Er bezieht sich „auf die Entwicklung des einzelnen Subjekts, das mikrostrukturell ähnlichen Prozessen ausgesetzt ist wie die Menschheit als Ganzes“[6]. Ausgangspunkt ist Freuds Modell der psychischen Lokalität, welches die Psyche als räumliche Relation zwischen Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem, in einer späteren Überarbeitung als dynamische Beziehung zwischen Ich, Über-Ich und Es beschreibt. Bei Lacan gibt es in Anlehnung daran drei Phasen des Psychischen; das Reale, das Imaginäre und das Symbolische. Erscheint dies vordergründig als Schwächung des räumlichen Charakters der Psyche, spielt – ganz im Gegenteil dazu – bei Lacan gerade die Metaphorik von Raum eine entscheidende Rolle in der Produktion von Sinn. Sinn ent- und besteht bei Lacan immer nur als Sinn für ein Subjekt, nicht durch Zuweisung eines Signifikats zu einem Signifikanten. „Wenn Lacan von Metapher spricht, meint er also den Prozess der Substitution durch ein Uneigentliches, das nicht mehr auf ein Eigentliches verweist“[7], bringt Doetsch dessen Überlegungen auf den Punkt. Lacans Subjektmodell ist dementsprechend dezidiert räumlich. Warum? Weil es eine räumliche Metapher ist!
Das Ich muss seine Rolle, seinen Platz in einer strukturierten Welt, die aus realen Objekten und virtuellen Bildern besteht, finden. Im Kontext des Verhältnisses von Behälter und Inhalt treten „die Fragmente des Realen und die virtuellen Bilder selbst auseinander“[8]. Die Schwierigkeit für das Individuum besteht in der Vermittlung von Realem und Imaginärem. Dafür ist das Finden seiner Position unbedingte Voraussetzung. „Nur an einem bestimmten Ort oder, präziser, innerhalb eines bestimmten Bereiches kann man beide zu einem Gesamtbild vereinigt sehen. Diesen Bereich erschafft die Sprache“[9]. Das Symbolische – Hand in Hand mit technischer Mediation verantwortlich für die Möglichkeit von Subjektivität – integriert die Heterogenität des Realen und die Bilder des Imaginären durch die Zuweisung des Subjektes zu einem bestimmten Ort in den Verschiebungen der Signifikanten. Das imaginäre Ego allein ist also noch nicht das Subjekt; dazu benötigt es noch das Ansprechen dieses Egos durch die Rede eines Anderen. Denn dadurch eröffnet sich die Möglichkeit von Kommunikation, und damit ebenso zur Substitution von Objekten durch Symbole zwecks Verständlichkeit für das Gegenüber.
Das Subjekt entsteht also in diesem Prozess der Substitution von Objekten durch Zeichen. „So ist das Subjekt real ein Ort, imaginär ein Bild und symbolisch ein Zeichen in einem“[10]. Diese Wirklichkeit, die sich das Subjekt konstituiert, ist also ein homogener, strukturierter Raum medialer und semiotischer Vermittlungen.
Das Neue an Lacans Beitrag zur Raumtheorie ist – basierend auf dem bereits bekannten räumlichen Apriori – die Tatsache eines symbolischen Aspekts und eines virtuellen Charakters der Konstruktion von Raum; Orte als Gefüge realer, virtueller Räumlichkeit und deren symbolischer Substitutionen.
Was bei Lacan – Doetschs Einschätzung nach – fehlt, ist das Miteinbeziehen des Körpers in seine Überlegungen. Ganz anders bei Luce Irigaray. Ihren Überlegungen folgend, ist der Körper Produkt eines nicht repräsentierbaren Elementaren, und der Platzierung dieses in Gestalt von Körperbildern in einen euklidischen Raum durch (technische) Medien. Bei Irigaray ist sexuelle Differenz die Grundlage jeglicher semiotischen Differenz. Es geht dabei gar nicht um die Differenz zwischen einem männlichen und einem weiblichen Körper, sondern um die pure Möglichkeit von Differenz. Diese muss unbedingt und immer mitgedacht werden. „Irigaray […] beschreibt die sexuelle Differenz als Konstruktion eines bestimmten Raumes als Raum eines Überganges, als Zwischenraum, der Differenz und Berührung in einem ist“[11].
Irigaray streicht Aristoteles’ Überlegungen von einem Charakter des Räumlichen als Kontakt der Oberflächen zwischen dem Behältnis und dem darin Enthaltenen als wesentlichen Moment des Räumlichen hervor (im Gegensatz zu Lacan). Sie geht sogar einen Schritt weiter, indem sie nachzeichnet, wie diese Erfahrung der Berührung (bzw. der Trennung) aus dem philosophischen Diskurs ausgeschlossen wurde. Das stellt für sie eine „Verdrängung des Weiblichen aus dem abendländischen Denken“[12] dar. Irigaray vermisst bei Aristoteles den Hinweis auf diese Erfahrung von Trennung und Berührung als Verweis auf die pränatale Situation, die Mutter-Kind-Beziehung und den sexuellen Akt. Irigaray sieht „gerade im Intervall als Zwischenraum der Trennung und Berührung das Wesentliche der Raumerfahrung, die eine Erfahrung der sexuellen Differenz und des Kontaktes darstellt“[13]. Raum als Resultat der Vereinigung Zweier, die nie Eins werden können. Der Ort vermittelt die Berührung, hebt die Trennung auf, unterstreicht diese jedoch im selben Atemzug.
Irigaray attestiert also der abendländischen Metaphysik eine Vernachlässigung des Momentes der Begegnung von Körpern zugunsten deren jeweiliger – fast schon fetischisierten – Positionierung im homogenen und abstrakten Raum.
Fast wie direkte Spiegelbilder zu Irigaray präsentieren sich die Herangehensweisen von Paul Virilio und Vilém Flusser, die an „die Konstruktion des Raums aus der unauflösbaren Implikation von Körper und Technik im Mediengefüge“[14] von der technischen Seite aus heranwagen.
Virilio erkennt in der Abhängigkeit der Kategorien Zeit, Raum und Subjekt von der jeweils durch das Medium induzierten Übertragungs- bzw. Transportgeschwindigkeit ein Ende der Erfahrbarkeit von Nähe. Gedankliche Voraussetzung für derartige Überlegungen ist die Definition von Raum über dessen Beherrschbarkeit durch materielle, technische Bedingungen (Übertragungsgeschwindigkeit von Zeichen, Transportgeschwindigkeit von Mensch und Material). Außerdem werden Medien (ähnlich anderer technischer Werkzeuge; s.o.) als Extensionen des Körpers gesehen; sie konfigurieren diesen in spezifischer Weise und determinieren so dessen Wahrnehmung.
Virilio hinterfragt – einfach gesagt – die Auswirkungen von Entwicklung und Weiterentwicklung moderner Medien auf politische (Raum)ordnungen. Durch die Übertragung von Informationen in Echtzeit suggerieren moderne Medien die Unmittelbarkeit dieser Wahrnehmung, manipulieren sozusagen den Körper „und ersetzen den Bezug des Menschen zu seiner Umwelt durch nicht mehr verortbare optische Illusionen“[15]. Dies geschieht natürlich nur passiv, und macht als solches eine Interaktion zwischen selbstständigen politischen Subjekten unmöglich. Die auf körperlicher Wahrnehmung basierende „sinnliche Erfahrung von Raum und Zeit als Kategorien, die zwischen Nähe und Ferne, Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden“[16], wird verdrängt durch ständige Gegenwart und falsche Unmittelbarkeit von Simulationen. Raum und Zeit spielen dabei nur mehr eine manipulierbare Rolle im Kontext entmaterialisierter Wahrnehmung. Doetsch hebt die Beschreibung der Virtualisierung des Raumes als Virilios großes Verdienst hervor, stellt andererseits die Kritik an dessen Bindung von Wahrnehmung an einen Körperstandard (und des damit einhergehenden Außer-Acht-Lassens der immer schon vorhandenen[!] Gebundenheit der Standards unseres Körpers an die verwendeten technischen Artefakte und Medien) bewusst unwidersprochen in den Raum seiner Ausführungen.
Denker wie Serres oder Lévy gehen anders an die Virtualisierung und Hybridisierung des Raums heran. Sie erkennen darin eine Chance zu einer Intensivierung und Diversifizierung von Erfahrungen. Dementsprechend ist Raum keine standardisierte, homogene Struktur (siehe euklidischer Raum), sondern eine momentane Konfiguration innerhalb chaotischer Prozesse; Raum „als dynamisches Netzwerk von Übergängen, in dem sich immer wieder neue Verknüpfungsmöglichkeiten eröffnen“[17].
Vilém Flusser versteht Raum ähnlich und argumentiert, dass Virilios Körperraum nur eine von drei untrennbar miteinander verbundenen Arten der Erfahrung von Raum darstellt. Flusser erweitert die zwischen links und rechts, sowie hinten und vorne unterscheidende Erfahrung des Körperraums um die vierdimensionale Raum-Zeit-Erfahrung des Weltraums und um die Erfahrung jener Wirklichkeit von Teilchen und Quanten, die keinen Raum und keine Zeit im herkömmlichen Sinne mehr kennt, die Erfahrung des virtuellen Raums. Weltraum und virtueller Raum zeichnen sich durch die Unmöglichkeit, sie mit Sprache – als Kategorien körperlicher Erfahrung – adäquat beschreiben zu können, aus. Flusser meint, diese ausnahmslos mit mathematischen Algorithmen – und nur mit damit! – fassen zu können. Doch sieht er darin nicht primär eine Eingrenzung, sondern vielmehr eine Chance; so könne man andere Wirklichkeiten berechnen, Körüer und Räume geradezu mittels dieser mathematischen Instrumentarien „designen“ und somit die Grundlage für andersartige Erfahrungen schaffen. Wenn neue Medien also ermöglichen, neue und vielgestaltige Wirklichkeiten zu gestalten und schaffen, wird Raum „von einem Apriori der Erfahrung zu einer manipulierbaren Variablen“[18].
Von da aus weitergehend versuchten sich etliche Denker an Theorien zu Tendenzen der Virtualisierung. Meist laufen diese auf eine nicht unwesentliche Erschütterung von Raumtheorie hinaus. Dann nämlich, wenn „das, was wir mit dem Wahrnehmungsapparat unseres Körpers als Raum erfahren […] lediglich die [stetig reversible] Aktualisierung von bestimmten Tendenzen einer Multiplizität“[19] darstellt. Allein schon durch die Aktualisierung anderer Tendenzen können sich wieder andere Tendenzen verändern, usw. Somit ist Raum das Resultat verschiedener, sich gegenseitig beeinflussender Aktualisierungsprozesse, die wiederum abhängen von den diese Prozesse vorantreibenden Apparaten, Verfahren; also nicht zuletzt von technischen Medien.
Schlussfolgernd kann Körpererfahrung nicht von medial induzierter Erfahrung getrennt werden, kann körperlich erfahrbarer Raum – realer Raum – nicht in Differenz zu von optischen Medien erzeugten Räumen – Illusion – gedacht und begriffen werden. Raum als Aktualisierung virtueller Räumlichkeit.
[1] Doetsch, Hermann; Einleitung zu Teil III. Körperliche, technische und mediale Räume, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hrsg.); Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 195.
[2] Ebenda, S. 195
[3] Ebenda, S. 197
[4] Nicht ausschließlich zu der Verfestigung, sondern durchaus auch als eine Art „Bedienungsanleitung“ von Gesten.
[5] Ebenda, S. 198
[6] Ebenda, S. 198
[7] Ebenda, S. 199 f.
[8] Ebenda, S. 201
[9] Ebenda, S. 201
[10] Ebenda, S. 202
[11] Ebenda, S. 203
[12] Ebenda, S. 204
[13] Ebenda, S. 204
[14] Ebenda, S. 205
[15] Ebenda, S. 206
[16] Ebenda, S. 206
[17] Ebenda, S. 207
[18] Ebenda, S. 208
[19] Ebenda, S. 209