Wie schon im vorangegangenem Artikel genauer ausgeführt, haben sich in der phänomenologischen Debatte drei unterschiedliche Diskurszugänge entwickelt: der frankophone, der deutsche und der anglophone. Einer der Hauptvertreter der anglophonen phänomenologischen Strömung ist Kurt Lewin. Unter anderen war Lewin eine der zentralen Figuren die zur Etablierung eines eigenständigen topologischen Zugangs zur Raumproblematik auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage beigetragen haben. „Für den Raum formulierte Lewin eine holistische Perspektive um zu einer „Ökologischen Psychologie“ zu gelangen, in der die Gesamtheit der Mensch-Umwelt-Beziehungen im Vordergrund stehen“. Die vorliegende Arbeit von Lewin beschreibt in ausgesprochener Praxisnähe die grundlegenden theoretischen Gedanken Lewins.
Lewin beginnt seine – zumindest bis man einen ersten Einblick gewonnen hat – nicht immer ganz unkomplizierten Ausführungen mit der begrifflichen Trennung zwischen „Raumgestalt“ und „Flächengestalt“. Was er damit genau meint verdeutlicht Lewin am Beispiel eines Hügels in der Landschaft. Zentral ist bei der Unterscheidung dieser beiden Begriffe die Vorstellung. Mit der Vorstellung meint nun Lewin, das der Wahrnehmung vorgelagerte ontologische „Vorverständnis“ einer Betrachtung. Die phänomenologische Wirklichkeit eines Hügels ist somit grundlegend von der Vorstellung des Betrachters abhängig: Insofern ist „das Sehen des Flächenhügels […] kein Wahrnehmen, sondern eine Vorstellung“[1].
Dadurch, dass die „Wirklichkeitsstruktur“ von der Vorstellung des Betrachters oder des „Sehenden“ abhängig ist, schließt Lewin, dass vorgestellte Gebilde in der Regel durch andere Vorstellungen ersetzt werden können.
Die Frage, wie sich nun die Vorstellung selbst derart unterschiedlich konstituieren kann, ist das zentrale Erklärungsziel des vorliegenden Textes. Lewin versucht durch seine eigenen Erfahrungen als Feldartillerist im Ersten Weltkrieg seine Raumzugänge im Sinne der verhaltenswissenschaftlichen Strömung zu erklären.
Die räumliche Landschaft – und um die Landschaft bzw. um verschiedene Gebiete der Räumlichkeit geht es im Text von Lewin – unterliegt ständigen Veränderungen, je nach dem wie sich die Vorstellungen des Betrachters ändern. Jedoch unterliegen die koordinatorischen Bezugsveränderungen nach denen sich die Landschaft bzw. ein Raum beschreiben lässt, nicht dem Bezugspunkt des Betrachters, sondern wirken aus der Landschaft bzw. dem Raum selbst heraus. Lewin verdeutlicht dieses Phänomen anhand eines marschierenden Soldaten, der durch eine Landschaft der Front entgegengeht: „Wenn man von der Etappe sich wieder der Front nähert, so erlebt man eine eigentümliche Umformung des Landschaftsbildes. […] Für gewöhnlich erlebt man die Landschaft [Friedenslandschaft; Anm. d. Verf.] auf diese Weise: Sie erstreckt sich, verhältnismäßig unabhängig von den durch die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus, […] und diese Ausdehnung geht nach allen Richtungen gleicherweise ins Unendliche, wenn sie auch je nach der Formation und dem Gelände in den verschiedenen Richtungen verschieden schnell und leicht fortschreiten kann. Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten. Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt. […] Es handelt sich […] um eine Veränderung der Landschaft selbst. Die Gegend scheint da „vorne“ ein Ende zu haben, dem ein „Nichts“ folgt“[2]. Durch die vektorielle Verortung eines vorne und hinten entsteht auch die „Grenze der Gegend“.
Parallel zur Grenzzone identifiziert Lewin aufgrund seiner Kriegserfahrungen auch eine Gefahrenzone. Diese Gefahrenzonenvorstellung setzt später ein als der Grenzcharakter der Gegend, der sich schon von weither kontinuierlich im progressiven Tempo verstärkt. Gefahrenzonen jedoch verdichten sich zu fixierten Örtlichkeiten, die aufgrund der eigenen Erfahrungen mit bestimmten Situationen zustande kommen. Es bilden sich Gefahrenpunkte, die zum Beispiel – wie Lewin in Kontext von Stellungskriegen schreibt – „vom Feinde einzusehen sind, besonders schlechte Deckung haben oder wo der Feind sonst hinzuschießen sich gewöhnt hat“[3].
„Im Bewegungskriege trifft man nach Beziehen einer neuen Stellung in der Regel zunächst eine nach vorn etwa gleichmäßig dichter werdende Gefahrzone an. Beim Verweilen bilden sich jedoch bald wiederum einzelne ausgesprochene Gefahrenstellen; nur erreichen diese selten die gleiche Festigkeit wie im Stellungskriege, wo übrigens eine analoge Veränderung beim Kennenlernen eines neuen Standortes auftritt“[4].
Anhand dieses Gefahrenzonenbeispiels verdeutlicht sich dann auch, was Lewin unter erfahrungsbedingter Vorstellungszuschreibung meint. Die vormalige „Wirklichkeit“ einer Landschaft mit all ihren Wegen, Bäumen, Wäldern, Hügeln usw. erhält durch unterschiedlich erfahrbare Situationspotentiale völlig unterschiedliche Bedeutungskonnotationen. Anhand Lewins Beispiel des Krieges wird klar, dass die Front schließlich keine Landschaft mehr darstellt, sondern zu einem reinen Gelände mit völlig differenzierteren Bedeutungsörtlichkeiten wird, als die Landschaft in Friedenszeiten aufgewiesen hatte. Sobald sich die Front aber wieder verlagert bzw. der Krieg „weg“ ist, erhält die Landschaft ihren vormalig eigentümlichen Charakter als Landschaft ohne Krieg – „Friedenslandschaft“ – wieder zurück. Was Lewin nun in diesem Zusammenhang mit differenzierter Vorstellung meint, veranschaulicht sich ausgesprochen gut anhand diesem Beispiel: „Die phänomenologischen Unterschiede eines zerschossenen Dorfes innerhalb und außerhalb der Stellung machen sich auch darin bemerkbar, dass das Unangenehme der Zerstörung bei dem Dorfe in der Stellung aufgehoben oder doch stark herabgesetzt ist; es ist eben ein Gefechtsgebilde und kein zerstörter Friedensgegenstand. Was innerhalb der Gefechtszone liegt, gehört dem Soldaten, als sein rechtmäßiger Besitz, nicht weil es erobert ist […], sondern weil es als Gefechtsgebilde ein militärisches Ding ist, das naturgemäß für den Soldaten da ist. […] Denn wenn auch diese Dinge ihre Friedensmerkmale nicht ganz verloren zu haben pflegen, so tritt doch sehr viel stärker der ihnen als Kriegsding zukommende Charakter in den Vordergrund, der sie häufig unter ganz andre Begriffskategorien zu ordnen veranlasst“[5].
Der vorliegende Text verdeutlicht auf sehr anschauliche, eindringliche und vor allem auch verständliche Art und Weise den theoretischen Raumzugang von Lewin. Die von Erfahrung determinierte Vorstellungsgrundlage der verhaltenswissenschaftlichen Raumerklärung ist ein ausgesprochen spannender Zugang zum phänomenologischen Diskurs der Begrifflichkeit Raum. Nicht zuletzt, weil dieser Zugang durch einfache, selbst anstellbare Gedankenexperimente in den eigenen Alltagsempfindungen leicht nachvollziehbar ist. Als Beispiel denke man nur an die perzeptionelle Räumlichkeitsveränderung, die auftritt sobald man ein Auto in Betrieb setzt: Grenzen und Räumlichkeitszuschreibungen verändern sich als Verkehrsteilnehmer fundamental – Grenzen entstehen, verändern sich; Gefahrenzonen werden erfahrbar und räumlich usw.
[1] Lewin, Kurt (1917): Kriegslandschaft. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 129.
[2] Lewin a.a.O. S. 130 f
[3] Lewin a.a.O. S. 132
[4] Lewin a.a.O. S. 132
[5] Lewin a.a.O. S. 135